Hochtour in den Berner Alpen am 14./15.08.2021

Nach der sehr langen und anstrengenden Tour am Bietschhorn wollten wir eine etwas kürzere Tour unternehmen. Auch weil er vom selben Tal ausgeht, wählten wir dafür den Sackhorn Westgrat. Und verschätzten uns dabei ordentlich.

Als wir 05:45 Uhr am Berggasthof Lauchernalp starteten, hatte ich die lange Tour aufs Bietschhorn noch ganz schön in den Knochen. Dementsprechend schneckenhaft stiegen wir richtung Gandegg auf. Ein paar Kühe schauten uns neugierig zu, ansonsten war so früh noch niemand unterwegs.

Auf ca. 2600m zweigten wir dann von der wenig inspirierenden Skigebiets-Schotterpiste ab und suchten uns über Moränen und Gletscherreste einen Weg zum Grat, den wir westlich der Märbiglücke erreichen wollten. „Unseren“ Grat mit seinen verschiedenen Türmen sahen wir dabei bereits deutlich vor uns. Sein optischer Eindruck wurde durch die Bebauung mit Lawinensprengeinrichtungen leider in Mitleidenschaft gezogen, was seiner Wildheit nicht gerecht wird.

Durch sehr mühsamen losen Schutt erreichten wir die Gratkante, nur um zu erkennen, dass wir etwas zu weit westlich waren. Also wieder runter, unangenehm über schuttbedeckte Platten queren und dann über Blöcke wieder hoch. So, damit war der Zustieg geschafft. Und ich hatte zum ersten Mal ein schlechtes Gefühl. Mir schien das eine von diesen Touren zu sein, die zwei Mal im Jahr von Einheimischen gegangen wird und sonst quasi nie. Das kann ja noch lustig werden, dachte ich mir, sagte zu Boris aber leider nix.

Nach einer kurzen Pause gingen wir die Abkletterei in die Märbiglücke an. An der II+ -Stelle tat ich mich etwas schwer. Gleich zu Beginn in zur Brüchigkeit neigendem Gelände abzuklettern ist für mich kein optimales Aufwärmprogramm. Auf der anderen Seite der Lücke, die als Übergang auch nur theoretische Bedeutung hat, ging es dann wieder aufwärts. Stellenweise war das gar nicht so ohne (II+), aber noch gut ohne Seil machbar.

Dann kamen wir zum zweiten Grataufschwung und der ersten IIIer-Passage und hier packten wir auch das Seil aus. Nach einer kurzen Diskussion, wo genau denn nun der beste Aufstieg sein müsste, legte Boris los. Ob nun an diesem Aufschwung die andere diskutierte Variante besser gewesen wäre, wissen wir nicht. Unsere war auf jeden Fall nicht richtig. Denn erstens war das hier kein IIIer und zweitens brauchten wir statt 1x 40m doppelt so weit, bis wir den höchsten Punkt erreichten. Unsere Klettergeschwindigkeit entsprach in dieser Passage in etwa dem Klischee des Berners*. Ui, so kommen wir ja nie an, dachte ich mir, behielt aber meine Zweifel wiederum für mich.

Nun ging es erst eine Länge horizontal am Grat entlang, dann absteigend zum Fuß des nächsten Turms. Die Kletterei hier war richtig nett, da der Fels gut und die Ausgesetztheit anregend war. Von Süden ist der Grat eher unscheinbar, dafür fällt er nach Norden ins Gasteretal erstaunlich steil und tief ab. Nur kamen wir leider nicht aus dem Standplatzkletter-Modus heraus, so dass wir weiterhin nicht allzu schnell voran kamen. Dazu kam, dass wir keinerlei Begehungsspuren, geschweige denn Haken oder Ähnliches fanden. Dementsprechend kosteten auch Wegsuche und Absicherung einiges an Zeit.

Es folgte nun die nominelle Schlüselstelle (3b), die wiederum Boris zufiel. Ein paar Meter ging es plattig und steil direkt aufwärts, danach in klassischer Gratkanten-Hangeltechnik weiter bis zu einer ebenso praktischen wie hässlichen Gitterblechplattform. Wahrscheinlich steht hier im Winter der Sprengmeister und choreografiert die Lawinensprengungen im Umkreis, bis deren Rhythmus genau zum Walliser Lied** passt. Hier gibt es auch einen Notabstieg nach Süden. Aber gerade jetzt lief es eigentlich ganz ok und so schenkten wir ihm keine besondere Aufmerksamkeit…

Von hier aus durfte ich einige Meter nordseitig steil abklettern und dann über ein kurzes Kriechband in die nächste Scharte kraxeln. Nun ging es einen weiteren plattigen Aufschwung hinauf (III) zu einem scharfen Reit- und Hangelgrat. Den durfte ich nun voranreiten und hangeln.

Die scharfe Schneide war leicht geschwungen und zeigte ihren Höhepunkt ganz am Ende: Um den finalen Zacken war ein ausgebleichtes rotes Seilstuck geknotet und diente offensichtlich als Abseilstand für den rückseitigen Abstieg. Drei mehr oder weniger solide alte Schlaghaken sowie eine neuere Köpfelschlinge waren mit dem Seilstück verbunden. Ich gebe zu, die Kombination aus der erheblichen Ausgesetztheit und dem etwas zweifelhaften Material fand ich doch recht gruselig.

Aber es half ja nichts. Also hangelte ich hinüber, setzte mich auf die Schneide und machte an dem Seilstück stand. Boris staunte dann auch nicht schlecht, als er hinterher kam. Er war auch derjenige, der das Ausbesserungsmaterial dabei hatte. Erste Herausforderung war für ihn, um mich herum zu klettern und den Stand zu erreichen. Dann konnte ich die lange Reepschnur aus seinem Rucksack fischen, die wir parallel zu dem alten Seilstück in die Konstruktion fädelten. So war uns schon etwas wohler. Auch einen Karabiner ließen wir noch zur Verbesserung vor Ort.

Anschließend bauten wir die Sicherung auf Bandschlingen um und fädelten das Seil durch den Karabiner. Aufgrund der schwierigen Topographie dauerte auch das etwas länger und irgendwann tat mir der Hintern vom Sitzen auf der scharfen Gratschneide weh. Das Abseilen selbst war dann kein Problem und bald erreichten wir das nächste flache Gratstück.

Wieder gingen wir am Seil über den Grat und über eine kleine Graterhebung in die nächste Scharte. Der Nachmittag war schon weiter fortgeschritten und ich wurde immer unruhiger. Hätten wir doch den Notabstieg nutzen sollen? Na ja, es war müßig, darüber nachzudenken.

Wir erreichten den nächsten Gratturm und die letzte IIIer-Stelle. Und wählten wieder nicht den besten Anstieg. Boris führte uns eine IVer-Länge hinauf, dann übernahm ich wieder für den leichten Teil. Wir stiegen auf Gehen am laufenden Seil um und erreichten den Gipfel des Turmes. Die Sonne stand schon tief, als ich oben ankam. Vor mir sah ich einen weiteres ausgesetztes Gratstück, das nach unten zum Ansatz des nächsten Aufschwungs führte. Dort schien noch einmal eine kurze Schneide zu warten, bevor sich der Grat im schuttigen Gipfelhang verlor. Oje, noch mehr Kletterrei! Allmählich ging mir dieses Sackhorn echt auf den Sack. Gleichzeitig war ich frustriert, dass wir so langsam unterwegs waren. Normalerweise braucht es für die Tour 8-9h. Hoch und runter. Und wir waren schon den ganzen Tag unterwegs und noch nicht mal oben.

Während sich Boris den Grat hinab arbeitete, überlegte ich, wie lange wir noch brauchen würden und kam zu dem Schluss, dass es sich nicht mehr ausgehen würde, vor Sonnenuntergang auch nur den Gipfel zu erreichen. Diese Erkenntnis fühlte sich nicht gut an, denn hier am Grat kamen wir nicht weg und ich fühlte mich etwas hilflos. Am nächsten Stand konfrontierte ich Boris damit und sagte, dass wir uns jetzt entscheiden müssten, was wir tun. Bevor es dunkel würde.

Schnell war klar, dass wir nicht mehr so wahnsinnig viel Optionen hatten. Also eigentlich nur zwei: Biwakieren oder retten lassen. Wir entschieden uns letztlich fürs Biwakieren, das hier recht gut möglich zu sein schien Und tatsächlich fanden wir einen windgeschützten Winkel. Die Felsplatten, die hier herum lagen, konnten wir gut umschichten und uns so zwei halbwegs bequeme Plätze bauen. Kaum hatten wir diese Entscheidung gefällt und unseren Platz bezogen, fielen auch Druck und Frust wieder von mir ab. Eigentlich war es doch richtig schön hier!

Wir hatten sehr viel Glück. Die Nacht war mild und fast windstill. Wir hatten noch einiges an Käse, Nüssen und Schoki dabei und auch noch einen Schluck Wasser. So konnten wir noch ein kleines Abendessen zu uns nehmen, während es allmählich dunkel wurde und sich die Sterne zeigten. Dann verkrochen wir uns in unsere Notfall-Biwaksäcke und schliefen sogar recht brauchbar. Es war unser erstes ungeplantes Biwak und viel besser hätte es kaum gehen können.

Am nächsten Morgen blieben wir liegen, bis uns die Sonne ein wenig zu wärmen begann. Dann kletterten wir wieder weiter. Die kurze Gratschneide, die hinter unserem Biwakwinkel in einen breiteren Hang überging, war das letzte Hindernis und bald packten wir das Seil weg. Der Rest war dann einfaches Block- und Schuttgelände. Halb neun standen wir dann am 3204m hohen Gipfel des Sackhorns. Wir waren sehr erleichert, dass wir diesen Anstieg mit einem Tag Verspätung doch noch geschafft hatten. Und die Aussicht über den weiten Kanderfirn war auch nicht schlecht.

Nach einer kurzen Gipfelpause machten wir uns an den Abstieg. Über den bröseligen Ostgrat (II) erreichten wir eine Scharte, von der aus man durch das bröselig-sandige Südcouloir absteigen kann. Das ganz große Vergnügen ist dieser Abstieg nicht, aber man kommt runter. Höhepunkt war eine Abseilstelle an einem Normalhaken, einem Klemmknoten und einem zu 2/3 durchgescheuerten Fixseil. Immerhin ergänzten wir das sehr rostige Rapidglied, das das alles zusammen hielt, mit einer neuen Reepschnur. So viel Sorgfalt muss sein. Für Wiederholer sei angemerkt, dass das Abseilen hier nur sinnvoll ist, wenn man mindestens 40m Seil hat.

Nach dieser Abseilfahrt mussten wir noch eine bröselige Felsstufe abklettern, dann hatten wir die Schwierigkeiten endlich hinter uns. Über Firnfelder, Moränenhänge und Wiesen ging es zurück zum Weg, dann an Schafen, Murmeltieren und Kühen weiter zur Lauchernalp. Wir waren froh, als wir pünktlich zum Mittagessen dort eintrafen. Und dieses unverhoffte Abenteuer mit Rösti und Weißbier abschließen konnten. Das hatten wir uns doch etwas anders vorgestellt. Aber immerhin hatten wir uns durchgebissen und waren nun um die Erfahrung eines Notbiwaks reicher.

Daten zur Tour

  • Sackhorn (3204m), Westgrat
  • Schwierigkeit AD, III
  • 1200 Hm Höhenmeter ab Lauchernalp
  • Kaum Material oder Begehungsspuren vorhanden.
  • Abstieg durch das Südcouloir (II und Abseilen, sehr bröselig)

*Neue archäologische Untersuchungen belegen, dass der Ötzi ein Berner war. Im Abstieg wurde er leider vom Gletscher überholt. Trotz dieses Klischees habe ich selbst noch nie Berner getroffen, die im Hochtourengelände langsam unterwegs waren. Ganz im Gegenteil!

**Als Kostprobe hier der Text der ersten Strophe: „Nennt mir das Land so wunderschön / Das Land in dem ich geboren bin / Wo himmelhoch die Berge steh’n / Und Mannskraft wohnt bei schlichtem Sinn“


Hannes

Ursprünglich Flachländer bin ich als Jugendlicher zufällig zur Liebe zu den Bergen gekommen. Seitdem bin ich immer wieder im Gebirge und gelegentlich auch am Meer unterwegs. Da ich schon immer gern geschrieben habe, startete ich 2010 dieses Blog, um andere Reiselustige und Bergfreunde an meinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

4 Kommentare

Mark · 5. September 2021 um 7:07 pm

Warum habe ich meinen Tipp Sackhorn nicht gleich öffentlich geschrieben?
Nein, das hätte ich nie im Leben erraten.

Die Erfahrung Notbiwak hast du mir voraus. Wir haben zwar nach dem Preussgrat ungeplant noch eine weitere Nacht biwakiert, aber wenn man dort schon einmal biwakiert hat und alles dabei hat außer genügend Essen, zählt es nicht.

Wenn man an solchen Graten über längere Passagen nicht von Standplatzsicherung wegkommt, wird es schwierig mit der Zeit. Wir haben diesen Sommer an einem selten begangenen Grat im Mont-Blanc-Gebiet genau aus dem Grund abgebrochen, als es noch möglich war.

    Hannes · 6. September 2021 um 2:43 pm

    Das war eine wertvolle Lektion für uns. Nach langsam kommt dann halt irgendwann zu langsam. Und nebenbei haben wir auch gelernt, dass es sich durchaus lohnt, 5min zu investieren, um einen möglichen alternativen Anstieg genauer anzuschauen. Denn in der falschen Linie zu klettern, kann viel, viel mehr Zeit kosten.

    Bin gespannt auf Eure Geschichte von der abgebrochenen Tour.

Rebecca · 16. September 2021 um 10:47 am

Eieiei, was für eine Abenteuertour! Gut, dass ihr die Nacht so problemlos überstanden habt und die Tour dann auch noch erfolgreich zuende führen konntet. Rückblickend sicher eine interessante Erfahrung, die man zwar nicht freiwillig macht, aber das Gesamterlebnis doch irgendwie reicher macht. Auf jeden Fall sehr spannend nachzulesen!
LG Rebecca

    Hannes · 19. September 2021 um 9:35 am

    Hallo Rebecca,
    freut mich, dass der Bericht unterhaltsam ist. 🙂 Und ja, es war eine spannende Erfahrung. Jetzt fühle ich mich endlich als richtiger Alpinist. ;D 😉

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