Bergtour in den Livigno-Alpen am 21.09.2024
Eigentlich interessieren mich mühsame Schotter-Dreitausender mittlerweile nicht mehr. Aber die Cima de’ Piazzi ist nun mal der höchste Gipfel der Livigno-Alpen und deshalb wollte ich da hoch. Der nordseitige Gletscheranstieg kam aus verschiedenen Gründen nicht infrage und so wurde es ein ganz schöner Hatsch.
Ich startete 06:20 Uhr in Arnoga (ca. 1850 m). In der Dunkelheit zeichnete sich in der Ferne die Silhouette eines mächtigen, breiten, vergletscherten Berges ab. Gut, dass ich nicht da hoch muss, dachte ich mir noch. Bis mir klar wurde, dass ich doch genau da hoch musste beziehungsweise wollte. Und zwar über die Rückseite. „Na ja, in der Dunkelheit schaut alles weiter weg aus, als es ist“, sprach ich mir Mut zu.
Von Arnoga aus führte mich mein Weg erst einmal 3 km flach ins Val Viola hinein. Der breite Weg ist hier hübsch angelegt, was die Sache immerhin etwas besser macht. Schließlich ging es auf einer Schotterstraße ein paar Meter hinab zur Brücke über den Torrente Viola und anschließend – endlich – bergauf ins Val Verva.
Nachdem ich die Hütten der Baita Verva hinter mir gelassen hatte, öffnete sich das Tal und zeigte seinen Charakter: weit und flach zog es sich sehr allmählich nach Südosten hinauf zum Passo di Verva.
Da das Gehen auf der Schotterpiste nicht allzu inspirierend war, wechselte ich an der Alpe Verva (2123 m) auf die rechte Seite des Baches, der das Tal durchfließt. Leider verlor sich der zunächst noch markierte Weg bald und etwas mühsam gelangte ich zu dem Bereich, in dem sich das Val Verva nach Osten öffnet. Dort musste ich hin.





Zwischen kleinen Wasserläufen hindurch suchte ich mir nun einen Weg über die nächste Geländestufe auf ca. 2400 m. Der Hauptbach durchfließt hier eine kleine Schlucht, von der ich mich im Aufstiegssinn links hielt. In diesem Hang fand ich auch wieder Markierungen, die vom Passo Verva bis zum Gipfel führen.
Ich war heute etwas angeschlagen, fühlte mich nicht ganz fit und ging daher kontrolliert langsam. Mal sehen, ob ich es bis zum Gipfel schaffen würde. Zunächst aber wanderte ich an Schafen vorbei und über eine weitere Geländestufe zum grünen See auf 2600 m Höhe. Nach den allgemeinen Wanderrichtungen Südwest (Val Viola) und Südost (Val Verva) war ab hier Nordost an der Reihe. Spiralförmige Annäherung an den Gipfel der Cima de’ Piazzi.
Nicht nur die Richtung des Weges änderte sich, sondern auch die Steigung. Steil wanderte ich über einen Geröllhang zu einem kleinen Kar auf ca. 2900 m Höhe. Hier gibt es sogar noch einen kleinen Gletscherrest. Diesen umging ich im Uhrzeigersinn in Block- und Schuttgelände. So näherte ich mich einer felsigen Steilstufe, die mit zahlreichen Kaskaden aus Wassereis geschmückt war und recht winterlich anmutete. Ich war gespannt, wie der markierte Anstieg diese überwinden würde.
Der Weg sucht sich hier geschickt den leichtesten Anstieg und führte mich über eine Rampe in die Steilstufe. Weiter oben war aber auch dieser recht flache Anstieg eisbedeckt. Da ich vermeiden wollte, für 20 m Strecke die Steigeisen anzulegen, kraxelte ich erst am linken Rand, dann am rechten Rand der Rinne hinauf (bis II) und umging so den Eispanzer.








Oberhalb der Steilrinne kam ich in einen breiten, teilweise schneebedeckten Geröllhang. Ich folgte den Markierungen schräg rechts hinauf zum Südgrat der Cima de’ Piazzi und dann an diesem hinauf zu einem kleinen Vorgipfel. Diesen umging ich linksseitig und rate von Nachahmung entschieden ab. Besser einfach hochgehen und dann auf dem Vorgipfel nach links.
Schließlich erreichte ich den Fuß des Gipfelaufbaus. Angesichts meiner Form war ich erstaunt, ohne Pause hierhergekommen zu sein. Irgendwie war ich einfach immer weitergegangen. Der Gipfelaufbau selbst ist erstaunlich steil und schroff und bietet herrlichen, ganz überwiegend festen Gneis (II). Ein schöner Kontrast zu dem vielen Geröll bis hierher. Leider war dieser Höhepunkt des gesamten Anstiegs mit Stahlketten entschärft – oder besser gesagt verunstaltet.
Ich beschloss, diesem prächtigen Berg meine Ehre zu erweisen, indem ich sowohl auf- als auch abwärts die Ketten ignorieren und nur am Fels klettern würde. Der Berg dankte mir diese Respektbekundung mit einem Griffausbruch. Nun ja – oder frei nach Nada Surf: The Mountains are indifferent to Alpinism.
Und 11:50 Uhr hatte ich es dann geschafft. Ich stand am – unerwartet exponierten – Gipfelkreuz der Cima de’ Piazzi (3439 m). Natürlich alleine. Das letzte Mal hatte ich Menschen unterhalb der Alpe Verva getroffen. Leider war es stark bewölkt und die Fernsicht dementsprechend eingeschränkt. Trotzdem war ich natürlich froh, es hier heraufgeschafft zu haben.






Ich genoss meine Gipfelbrotzeit, schaute mich um und brach relativ bald wieder auf, weil die Wolken ein wenig nach Niederschlag aussahen. Und auf einen Abstieg im Schneegestöber hatte ich so gar keine Lust.
Auf dem Rückweg nahm ich vom Fuß des Gipfelaufbaus den direkten Weg am Gletscherrand entlang zum Vorgipfel. Viel einfacher als meine Aufstiegsvariante und dank des Neuschnees auch ohne Steigeisen vollkommen unproblematisch. Weiter unten im Geröllhang war der im Aufstieg noch spröde Schnee mittlerweile etwas aufgeweicht, was den Abstieg ebenfalls vereinfachte.
An der Steilstufe wählte ich dann die direktere „Cubemaster-Rinne“ (für eine ausführliche Beschreibung dieses Anstiegs siehe https://www.hikr.org/tour/post85341.html). Diese hatte von unten den Eindruck erweckt, als könnte ich dort auf der orografisch linken Seite eisfrei durchkommen. Das ging dann auch tatsächlich auf, trotzdem rate ich bei halbwegs normalen Bedingungen von einer Begehung der Rinne ab. Nicht nur ist sie deutlich anspruchsvoller als der markierte Weg, sondern auch stärker steinschlaggefährdet.
Unterhalb der Rinne machte ich an einem perfekten Sitzstein noch einmal kurz Pause. Gerade hatte sich eine Lücke in den Wolken geöffnet. Also einfach mal anlehnen, Augen schließen und Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Herrlich!









Anschließend stieg ich weiter ab über die Geröll- und weiten Wiesenhänge. Zurück im Val Verva überquerte ich direkt den Bach und wanderte auf der Schotterpiste weiter. Allmählich zog sich die ganze Geschichte ziemlich.
Die drei flachen Kilometer zurück durchs Val Viola waren in den dicken Schuhen dann eher Strafe als Freude. Doch irgendwann (genauer gesagt gegen 16:50 Uhr) erreichte ich Arnoga und blickte erneut hinauf zur fernen Cima de’ Piazzi. Hah, da war ich heute tatsächlich oben!
Daten zur Tour
- Cima de’ Piazzi (3439 m), über Südwestflanke
- Schwierigkeit T4, II (bzw. bei Kettenbenutzung I und B-C)
- „Cubemaster-Rinne“: T5+, II
- 1700 Höhenmeter
- Erstbestiegen am 21.08.1867 durch Johann Jakob Weilenmann mit Franz Pöll und Santo Romani
2 Kommentare
Mark · 5. Oktober 2024 um 5:41 am
Manchmal denke ich mir, ein ähnliches Projekt wie deines wäre cool, um häufiger aus dem Tagestourenbereich herauszukommen. Bei solchen Touren denke ich mir dann wieder, wenn ich mich auf irgendwelche 3000er hochschottern muss, kann ich das auch vor der Haustür machen und muss nicht viele Stunden im Auto sitzen. Wie man es auch macht, alles hat Vor- und Nachteile.
Hannes · 11. Oktober 2024 um 1:06 pm
Das Verhältnis zwischen Anfahrt und alpinem Erlebnis ist definitiv nicht überall gleich gut. Wobei die Cima de‘ Piazzi da noch im Mittelfeld rangiert. Bei den ganz harten Fällen hoffe ich, mehrere kombinieren zu können. Und dann habe ich natürlich noch den Vorteil, dass es bei mir in der Nähe keine schottrigen Dreitausender gibt. 😅