Über Solo-Bergsteigen

Warum geht man alleine in die Berge? Klar, weil man gerade niemanden hat, der mitkommen mag. Oder auch, weil man mal Ruhe braucht. Manchmal aber gehe ich auch alleine in die Berge, um mich selbst zu erkennen.

Solo-Bergsteigen als Demutserfahrung

Fluchend sitze ich vor meinem Gaskocher. Das kann doch nicht wahr sein, dass ich meinen Göffel gestern habe liegen lassen. Mein einziges Besteck für zweieinhalb Wochen unterwegs. Wie blöd bin ich eigentlich? Ich hadere mit mir, während ich mit einem kleinen Stöckchen, das ich unterwegs mitgenommen habe, die kochenden Nudeln umrühre. Und überlege, wie das passieren konnte. Gestern Abend nach dem Abspülen hatte ich den Göffel auf einen Baumstamm gelegt. Tja, und da liegt er wohl immer noch. So ein Mist! Ich fühle mich eingesperrt in der unendlichen Weite der kalifornischen Wildnis um mich herum. Bin genervt von mir selbst – von meiner Unachtsamkeit, von meinem Ärger darüber. Und ich will nur noch von hier weg.

Andere Zeit, anderer Ort: So viele herausfordernde Stellen hatte ich heute schon überwunden. Leichte, aber ausgesetzte Kletterei, eine komische, plattige Rinne, dazu steile Aufstiege und Querungen im Firn. Und jetzt stand ich hier und wollte nicht weiter. Es waren nur drei Meter bis zum rettenden Felsband. Drei Meter Querung über steiles Eis, das unter den Steigeisen splitterte und mir überhaupt nicht geheuer war. Zwei Schritte machte ich hinüber, dann wusste ich, dass ich nicht weiter wollte. Zu unsicher war mir die Eiskonsistenz, so ganz ohne Sicherung. Also zurück. Mir wurde klar, dass mir ein sehr langer und mühsamer Abstieg bevorstand. Aber es half nichts, da musste ich jetzt durch.

„Gnōthi seautón“ forderte der griechische Gott Apollon — „Erkenne Dich selbst“. Damit meinte er, die Begrenztheit der menschlichen Möglichkeiten im Allgemeinen und der jeweiligen Person im Besonderen zu erkennen und anzuerkennen. Der Mensch ist nun einmal Mensch und nicht Gott. Er muss sich in die Natur einordnen und steht nicht über ihr. Eine Erkenntnis, die heute aktueller scheint denn je.

Um Demut zu erlernen, kenne ich nichts Besseres, als alleine in die Berge zu gehen. Die Begrenztheit meiner Möglichkeiten wird mir selten so unmittelbar gespiegelt wie hier. Dass der Berg stärker ist als ich, ist ohnehin klar. Wenn ich alleine unterwegs bin, kommt dazu, dass es keine emotionale Unterstützung eines Partners gibt, keine Aufmunterung, kein Verteilen der Verantwortung, keine Versicherung, dass jemand da ist, wenn etwas passiert ist. Nur mich mit meinen begrenzten körperlichen und psychischen Möglichkeiten – nur mich und den Berg.

Meine Grenzen kennenzulernen, ist nicht immer angenehm, wie die beiden Beispiele zeigen. Trotzdem erlebe ich die unmittelbare Erfahrung meiner Beschränktheit jedes Mal als Bereicherung. Wie eine Eichung, die mich zur Natur in Beziehung setzt; die mir zeigt, wo ich stehe. Ich erkenne, was ich bin.

Erfahren der eigenen Möglichkeiten

Während ich an einem kleinen einsamen Bergsee mein Lager aufschlage, blicke ich ungläubig über ein tiefes Tal, das ich vorhin durchquert habe, zurück zum letzten Pass des heutigen Tages. Dahinter liegt noch ein Tal, durch das ich heute schon gewandert bin, dann noch ein Pass und noch ein Tal. Und alles ohne Weg. Als ich am Morgen jenseits des dritten Tals gestartet bin, schien mir schon der erste Pass viel zu weit weg zu sein. Und jetzt bin ich hier. Wie zum Teufel habe ich das alles heute geschafft?

Viel später und ganz woanders: Vorsichtig klettere ich über die mit Reif bedeckten Felsen an die Gratkante. Hinter mir fällt die Wand etwa vierhundert Meter zum Gletscher ab. Ich lasse mir Zeit für jede Bewegung, platziere Hände und Steigeisen sorgfältig und präge mir den exakten Ablauf für den späteren Rückweg ein. Dann erreiche ich wieder Gehgelände. Uiuiui, denke ich, das war mal ausgesetzt! Ganz schön viel Luft unter dem Hintern für eine Solo-Tour. Aber heute bin ich so sicher unterwegs, dass ich gar keine Zweifel habe, später auch wieder sicher abklettern zu können. Ich kann also die Gipfelpause weiter oben ganz entspannt genießen.

Platon wandte die eher resignative apollonische Aufforderung des Gnōthi seautón ins Positive. Selbsterkenntnis heißt bei ihm auch, den göttlichen Charakter der eigenen Seele zu erkennen. Denn diese Göttlichkeit gibt der menschlichen Seele die Fähigkeit zur Entwicklung. Wenn wir also unsere Beschränktheit erkennen, haben wir auch die Möglichkeit, sie in einzelnen Aspekten immer wieder zu überwinden.

Und auch für diesen Aspekt des Selbst-Erkennens kenne ich kaum eine geeignetere Aktivität als Solo-Bergsteigen. Was habe ich schon gerungen mit meiner Angst, mit meinen Zweifeln, auch mit körperlichen Grenzen. Natürlich nicht nur, wenn ich alleine unterwegs war, aber dann oft ganz besonders. Und immer wieder habe ich dabei festgestellt, dass ich manche Grenzen verschieben kann. Dass ich die Freiheit erlangen kann, Dinge zu tun, die ich früher nicht gekonnt hätte.

Beides in Kombination – die intensive und unmittelbare Erfahrung meiner Beschränktheit in Auseinandersetzung mit der Natur und meiner Entwicklungsmöglichkeiten in Bezug auf mich selbst – finde ich unglaublich bereichernd. Bei anspruchsvollen Solo-Touren suche ich daher auch immer wieder intensive Erfahrungen wie die oben beschriebenen.

Ich würde sicher nicht ständig alleine bergsteigen wollen. Zu wichtig sind mir dafür gemeinsames Erleben und die dadurch entstehende tiefe Verbundenheit. Mit anderen – und besonders mit der Familie oder mit guten Freunden – unterwegs zu sein, ist herrlich. Aber gelegentlich will ich, muss ich alleine in die Berge gehen, um mich ganz ungefiltert selbst zu erkennen.

Kategorien: Berggedanken

Hannes

Ursprünglich Flachländer bin ich als Jugendlicher zufällig zur Liebe zu den Bergen gekommen. Seitdem bin ich immer wieder im Gebirge und gelegentlich auch am Meer unterwegs. Da ich schon immer gern geschrieben habe, startete ich 2010 dieses Blog, um andere Reiselustige und Bergfreunde an meinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

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