Hochtour in den Albula-Alpen vom 24.-26.06.2023

Bei unserem Ausflug zum Piz Kesch waren die Vorzeichen eher nicht vielversprechend. Aber Gregor und ich probierten es einfach trotzdem und hatten damit Erfolg.

Als wir Sonntag früh in der Chamanna d’Es-cha beim Essen saßen, war meine Stimmung recht gedämpft. Am Morgen davor, pünktlich zur Abfahrt zur lang geplanten Hochtourenwoche, hatte ich Halsweh bekommen. Mal wieder einer dieser hinterhältigen KiTa-Keime, die immer genau zur falschen Zeit kommen. Immerhin schien es nicht so richtig schlimm zu sein, also fuhr ich mal los, holte Gregor in Garmisch ab und kurvte mit ihm zusammen weiter ins Engadin.

Richtig fit fühlte ich mich nicht und die Lautstärke in der Hüttenstube setzte mir auch zu, so dass ich mich vor allem auf mein Essen und den Kaffee konzentrierte. Mehrere andere Seilschaften um uns herum hatten den gleichen Plan wie wir: Über den NO-Grat auf die Keschnadel und dann weiter zum Piz Kesch. Doch sowohl der Hüttenwart als auch ein Kletterer, der es am Vortag probiert hatte, hatten gemeint, nur die Nadel ginge gut. Für die Überschreitung läge am Grat noch zu viel Altschnee mit schlechter Konsistenz. Also vielleicht doch nur der Normalweg?

Im Hüttenzustieg hatte sich dann Gregor auch noch Blasen an den Fersen und die Zehen wund gelaufen, weil die Schuhe nicht mehr richtig passten. Super Voraussetzungen also für unsere Hochtour. Neben uns saß ein Schweizer Pärchen, dass auch eher verhalten (oder konzentriert?) ihr Müsli löffelte. Alle Anderen strahlten Zuversicht und Tatendrang aus. Na ja, gehen wir halt mal los und schauen, was so geht.

05:20 Uhr verließen wir die nette Hütte (2593m) und stapften im Morgenlicht los. Beim Loslaufen hatte ich das Gefühl, ich könnte mich genau so gut gleich wieder hinlegen. Irgendwie schlapp und mit einem Rachen, als hätte ich ein Reibeisen verschluckt. Aber nach etwa zwanzig Minuten hatte ich mich dann warm gelaufen. Auch Gregor hatte seine Füße mit Pflastern und angepasster Schnürung einigermaßen in den Griff bekommen und konnte vernünftig gehen. Schnell waren wir nicht, konnten aber immerhin ein gleichmäßiges Tempo gehen.

Während wir die Hänge zur Porta d’Es-cha (3007m) hinauf gingen, überholte uns das Schweizer Pärchen vom Frühstück. Sie waren als Letzte gestartet und rollten nun das Feld von hinten auf. Kurz darauf erreichten wir hinter der Scharte den Vadret da Porchabella und packten Seil, Steigeisen, Pickel aus. Ein paar andere Seilschaften waren auch noch zugange, andere schon wieder unterwegs und nur eine noch hinter uns. Aber wurscht, wir hatten heute keinen Zeitdruck und ich würde froh sein, wenn wir es überhaupt hoch schafften.

Auf dem Gletscher kam dann der Moment der Entscheidung – Normalweg oder Keschnadel? Welcher Weg auf den Piz Kesch soll es sein? Gregor meinte, ich solle entscheiden. Eigentlich sah der Grat recht gut aus mit weniger Schnee als erwartet. Und außerdem hatte die Nadel vorhin im Morgenlicht so verlockend ausgeschaut. Auf der anderen Seite die Fitness… „Komm, lass es uns versuchen,“ meinte ich spontan zu Gregor, „musst Du halt die Schlüssellänge vorsteigen.“ Damit war die Entscheidung gefallen. Und während die meisten Seilschaften direkt auf den Gipfelaufbau des Piz Kesch zuhielten, folgten wir der Nebenspur zum Einstieg in den NO-Grat der Keschnadel.

Der Zustieg zur eigentlichen Kletterei hielt dann sogar eine eigene Schlüsselstelle parat: Eine schmale Gratpassage, auf der man von einer Seite der Schneide auf die andere wechseln muss, um einen kurzen Steilaufschwung zu überwinden. Schwer ist das nicht (3a), aber ausgesetzt und moralisch nicht ohne. Eine später noch nachfolgende Seilschaft brauchte dann auch ziemlich lange, um diese Stelle zu überwinden.

Wir waren zum Glück schneller und erreichten bald den eigentlichen Einstieg inklusive gebohrtem Standplatz. Hier seilten wir nun an und dann ging es los. Auf den ersten Metern der 4a-Länge brauchte ich etwas, um warm zu werden, dann ging es gut voran. Am Ende der Länge hängte ich das MicroTraxion ein und ging gleich weiter. Da nun leichtere Längen (Gehgelände, 3c, 2b) folgten, hatten wir uns vorher dafür entschieden, diese am laufenden Seil zu gehen.

Das simultane Klettern klappte prima, auch weil Gregor hinten die Seillänge sehr gut einstellte. Und das Sicherungsmaterial reichte ganz genau bis zum Stand vor der Schlüsselseillänge. „Das hat ja mal super geklappt,“ dachte ich mir, als ich Gregor nun nachholte.

Am Stand wechselte Gregor aus den Berg- in die Kletterschuhe und ging dann die Schlüsselseillänge (5b) an. Diese bot erst weite, leicht überhängende Züge an großen Griffen und dann weiter rechts eine glatte Verschneidung mit kleinen Tritten. Die Kletterei war durchaus anspruchsvoll und dies zusammen mit der Höhe von ca. 3300m brachte uns ordentlich zum Schnaufen.

Nachdem ich im Bergschuh-Nachstieg die Schlüssellänge hinauf geeiert war, ging es wieder an den Vorstieg. Etwas zögerlich stand ich bald vor einem Spreizschritt, der mich ein wenig Überwindung kostete. Auch die anschließende Plattenpassage (4a) war in den dicken Schuhen nochmals eine Herausforderung, bevor das Gelände leichter wurde und wir wieder am laufenden Seil gingen.

Den Gipfel der Keschnadel (3386m) bildet ein leichter, herrlich ausgesetzter Grat, hinter dem ich kurz vor 11:00 Uhr einen angenehmen Pausenplatz ansteuerte. Hier setzten wir uns hin und ruhten uns eine Weile aus. Die Kletterei war soweit prima gelaufen, anstrengend war es aber doch. Dazu war der Rachen staubtrocken. Entschädigt wurden wir dafür mit einer fantastischen Aussicht auf Urner Alpen, Glarner Alpen, Churfirsten, Rätikon, Silvretta, Ötztaler, Ortler-Alpen. Und als Höhepunkt direkt gegenüber die majestätische Bernina. Wir blickten genau auf die Schneide des Biancogrates, diese herrliche Linie zwischen Himmel und Erde, die wir einige Tage später noch angehen wollten.

Nachdem wir uns satt gesehen hatten, beschäftigten wir uns mit dem Weiterweg. Das schnelle Schweizer Pärchen spurte bereits durch ein Schneefeld zum sogenannten Mittelgipfel (3403m) hinauf. Von den anderen Seilschaften keine Spur, sie hatten wohl alle umdisponiert, bzw. steckte eine noch am NO-Grat. Mit Handzeichen bedeuteten uns die Beiden, in welcher Richtung wir die Abseilstelle in die Scharte zu suchen hätten. Das war hilfreich, denn man muss hier in Aufstiegsrichtung rechts vom Grat absteigen, um nach einer Umgehung des Gipfelaufbaus nach links abzuseilen.

Der Keschgrat bot nun etwas rustikaleres, aber doch überwiegend schönes Gratgelände. Kletterei bis II wechselte sich hier ab mit schuttigem oder blockigem Gehgelände und nur noch wenigen Schneepassagen. Das machte richtig Spaß und da wir uns meist seilfrei wohl fühlten, holten wir die beiden Schweizer schließlich ein und erkundeten den Weiterweg gemeinsam.

Am letzten Turm vor dem Gipfelaufbau wartete noch eine Abseilstelle auf uns, dann folgte die ausgesetzteste und anspruchsvollste Stelle der Überschreitung (mehr 3 als 2). Während Gregor hier schnell voran kam, musste ich ein wenig knobeln. Schließlich war aber auch das geschafft und nach den letzten leichten Schrofen erreichten wir gegen 14:30 den 3418m hohen Gipfel des Piz Kesch. Yeah, geschafft! Beziehungsweise: Geht doch! Ein paar Minuten später kamen auch die beiden Schweizer an und wir genossen gemeinsam Aussicht und Bergerlebnis. Was für ein herrlicher Tag, um jetzt hier zu sitzen!

Der Abstieg hielt dann ein letztes Wandl (2b) bereit, der Rest war Schutt und Schnee. Am Gletscher ließen uns die Schweizer zurück, da wir erst noch einen üblen Seilsalat entknoten mussten. Unser Gehtempo war in der Folge ebenfalls nicht rekordverdächtig. Denn ich war echt kaputt und fühlte mich wie eine Trokenpflaume mit Halsschmerzen und Gregors Füße taten auch bei jedem Schritt weh.

Kurz nach 18:00 Uhr erreichten wir schließlich die Hütte, mieteten uns für eine weitere Nacht ein. Nach dem Essen genossen wir noch diverse Getränke zur Rehydrierung. Und danach vor allem die herrliche Abendstimmung auf der Terrasse. Vor uns leuchteten die Gletscher und Firnhänge der Bernina im Abendrot, hinter uns stand steil und dunkel die Keschnadel. Was für eine herrliche Stimmung! Und Halsweh und Blasen würden schon auch wieder vergehen. So war es der perfekte Abschluss unserer ersten Tour im Engadin!

Daten zur Tour

  • Keschnadel NO-Grat und Überschreitung Piz Kesch (3418m)
  • Schwierigkeit AD+, 5b
  • 1000 Höhenmeter ab Chamanna d’Es-cha
  • Absicherung NO-Grat mittel und gut ergänzbar (Cams, Schlingen), Überschreitung ohne fixes Material
  • NO-Grat der Keschnadel erstbegangen am 29.07.1906 durch P. und M. Schukan
  • Überschreitung des Keschgrates erstmalig begangen entweder 1863 durch Jakob Planta oder am 28.09.1877 durch Paul Güßfeldt mit Hans Grass

Hannes

Ursprünglich Flachländer bin ich als Jugendlicher zufällig zur Liebe zu den Bergen gekommen. Seitdem bin ich immer wieder im Gebirge und gelegentlich auch am Meer unterwegs. Da ich schon immer gern geschrieben habe, startete ich 2010 dieses Blog, um andere Reiselustige und Bergfreunde an meinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

8 Kommentare

Mark · 6. Juli 2023 um 4:55 am

Da da heuer ein paar Mal Pech hattest mit Erkrankung oder Material, freut es mich ganz besonders, dass die Überschreitung wie geplant geklappt hat. Der Bernin-Blick von der Hütte ist unglaublich schön. Obwohl ich schon auf dem Piz Kesch im Frühjahr über die Keschhütte gestiegen bin, würde es mich reizen eure Tour nachzugehen.
Nur beim Datum solltest du noch einmal schauen. 😉

    Hannes · 6. Juli 2023 um 7:44 pm

    Servus Mark, danke fürs Mitfreuen! Ich musste auch daran denken, dass Euch diese Tour gefallen könnte. Wahrscheinlich ist Euch die Kletterei nur etwas zu kurz und zu leicht. 😉
    Ja, das Datum ist noch etwas zukunftsweisend… wird korrigiert.

Claudia · 10. Juli 2023 um 5:05 am

Wirklich einen tolle Tour! Gratuliere, dass ihr es probiert und dann auch bravourös geschafft habt trotz diverser Widrigkeiten 💪

    Hannes · 10. Juli 2023 um 3:41 pm

    Vielen Dank! Dieses Mal ist es einfach echt gut aufgegangen. 😀

Flachlandtiroler · 11. Juli 2023 um 8:53 am

Dito wie Mark — habe den Normalweg im (Hoch-)Winter gemacht, tolles Alpinerlebnis (Kälte, Tiefschnee, Winterraum,…) aber mehr Wühlen als Klettern. Die Keschnadel habe ich auch im Blick, vielen Dank für den Bericht und schönen Fotos!

    Hannes · 11. Juli 2023 um 4:46 pm

    Ich kann die Überschreitung von der Nadel nur empfehlen. Falls Du die Tour mal angehst, wünsche ich Dir viel Freude daran!

Michael · 5. August 2023 um 10:21 pm

Hi Hannes, wir sind 2016 den K 42 gelaufen (ich war da noch 66) und 3 Tage vorher auf dem Normalweg von der Chamanna d’Es-cha auf den Kesch gestiegen, um schon mal einen Blick auf unser Laufevent zu werfen. War eine tolle Tour, und weil wir nicht so schnell sind, waren wir fast alleine. Beim Marathon waren wir dann auch nicht schnell, aber uns kam‘s weniger auf die Zeit an, sondern ums Dabeisein – und finisher waren wir ja dann trotzdem)
Daran musste ich jetzt denken, als ich deinen netten Bericht gefunden habe. Wieder sehr hübsche Bilder!
Grüße aus Bad Reichenhall
Michael

    Hannes · 7. August 2023 um 9:40 am

    Hallo Michael,

    K 42, wow! 42km durch die Berge LAUFEN finde ich sehr beeindruckend. Und coole Idee, vorher den Kesch zum warm werden zu besteigen. Bei uns war es ja auch eine Eingehtour – halt eine, die schon für sich genommen sehr lohnend war.

    Beste Grüße
    Hannes

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