Hochtour in den Ortler-Alpen am 21./22.07.2023

Als mich Christian im Frühjahr fragte, ob ich mit ihm zusammen über den Hintergrat auf den Ortler steigen wollte, musste ich nicht lange überlegen. Der Ortler ist immerhin eine der dominierenden Berggestalten der Ostalpen und der Hintergrat gilt als schön und anspruchsvoll. Es wurde dann aber leider eine dieser Hochtouren, die mehr Arbeit sind als Genuss.

Es war dabei nicht so, als hätte ich Christian nicht gewarnt. Während wir im leichten Regen von Sulden (1880m) zur Hintergrathütte aufstiegen, an den hübsch geschnitzten Figuren des Wurzelweges entlang, berichtete ich ihm von früheren Hochtouren. Klar, in den letzten Jahren hatte es oft gepasst, aber klassischerweise finden Hochtouren mit meiner Beteiligung gerne bei zweifelhaftem Wetter oder schwierigen Bedingungen statt. Allalinhorn und Hochalmspitze dienten als illustrierende Beispiele.

Doch ließ sich Christian nicht entmutigen und vertraute darauf, dass das morgige Wetter die Vorhersage, die sich immerhin eh schon gebessert hatte, noch einmal übertreffen würde. Wäre nicht schlecht, stimmte ich ihm zu. Immerhin, während wir an der Bergstation des Langensteinlifts vorbei wanderten, hörte der Regen allmählich auf, so dass wir schon wieder halbwegs trocken waren, als wir um 16:00 Uhr an der Hintergrathütte (2661m) eintrafen.

Auf der Hütte aßen wir erst einmal ein großes Stück Kuchen, dann planten wir die Tour für den nächsten Tag. Der Vormittag versprach recht freundlich zu werden und die Gewitterneigung hatte sich auf den Nachmittag verschoben. Wir machten einen groben Zeitplan für den Aufstieg und vereinbarten eine Umkehrzeit für den Signalkopf, den letzten Punkt am Grat, an dem ein Abbruch bequem möglich ist. Außerdem prüften wir noch mal Christians GPS-Route für den Normalweg. Denn dass der obere Teil des Gletschers in Wolken gehüllt sein könnte, erschien und nicht unwahrscheinlich.

Am nächsten Morgen saßen wir um 03:00 Uhr noch ziemlich verschlafen am Frühstückstisch. Außer uns waren noch ein deutscher, ein italienischer und ein südtiroler Bergführer mit jeweils zwei Gästen am Start, um gleich zum Hintergrat aufzubrechen. Viel war das nicht für diese berühmte Tour. Es war sicherlich vorteilhaft, dass wir an einem Samstag statt einem Sonntag unterwegs waren. Und natürlich auch, dass das Wetter eben nicht komplett stabil war.

03:35 Uhr ging es dann los. Erst an der Moräne des Suldenferners entlang, dann durch das Kar, das zum Oberen Knott führt. Die Trittspuren dort sind meist sehr deutlich, so dass die Wegfindung auch im Dunkeln nicht sehr schwierig ist. Erst im Oberen Bereich muss man etwas genauer hinschauen. Wir hatten uns hinten eingereiht und stiegen in unserem Rhythmus auf. Das Tempo im Gehgelände würde heute nicht entscheidend sein, daher legten wir mehr Wert darauf, hier effizient und kraftsparend zu gehen, als besonders schnell.

Ab 3300m merkte ich dann deutlich die Höhe. Jetzt also noch 600m durchbeißen bis zum Gipfel. Na, das würde schon gehen. Ab ca. 3500m trafen wir auch auf den erwarteten Neuschnee, der die Tour heute etwas anspruchsvoller machen würde. Ungefähr auf dieser Höhe überholte uns noch eine Dreier-Seilschaft, die direkt aus dem Tal aufgestiegen war. Eine weitere Zweier-Seilschaft kam weiter unten ebenfalls noch hinauf und komplettierte das Feld der heutigen Hintergrat-Anwärter.

Als wir am ersten Firnfeld ankamen, ging gerade die Sonne hinter der Vertainspitze auf. Ein tolles Schauspiel, das einen herrlichen Tag versprach. Doch wurde das Versprechen nicht eingelöst, denn 15min später standen wir im Nebel und daran sollte sich auch erst einmal nichts mehr ändern. Es wurde also mal wieder eine dieser Touren…

06:50 Uhr erreichten wir den Signalkopf (3725m). Bis hierher lagen gut in der Zeit, doch es war auch klar, dass sich das jetzt ändern würde, denn vor uns war erst mal Stau. Durch den Neuschnee war die IIIer-Abkletterstelle recht unangenehm geworden und auch wir packten hier das Seil aus, als wir an der Reihe waren.

Ich kletterte die Stelle gesichert ab, dann seilte Christian hinterher. Nach einem nicht ganz idealen Seilmanöver querten wir dann auf einem Band zurück zum Grat. Hier standen wir vor der ersten Schlüsselstelle, der berüchtigten IVer-Verschneidung, die Christian gehörte. Die sehr abgespeckten Griffe und Tritte der Verschneidung waren heute natürlich nass und fühlten sich an wie frisch eingeseift. Wir verzichteten daher auf jegliche Freikletterversuche und griffen beherzt ins Fixseil, das hier bereithing.

Nach einem kurzen engen Kamin (III) und einem kleinen Wandl (II) wurde es erst einmal wieder leichter und bald kamen wir zum zweiten Firnfeld. Dieses ist deutlich steiler als das erste, war heute aber ebenfalls noch gut ohne Steigeisen begehbar. Für irgend etwas musste der Neuschnee ja gut sein.

Die zweite IV- -Stelle durfte ich dann vorsteigen. Die Stelle war nicht sehr schwierig, dank Schnee und Eis aber auch nicht so ganz easy. Nachdem das geschafft war, packten wir das Seil weg und dafür die Steigeisen aus, denn hier oben nahm der Schnee noch einmal zu. Dann überwanden wir einen kurzen Firngrat und gingen den letzten Felsaufschwung an (II). Allmählich war auch das Gipfelkreuz durch den Nebel zu erahnen, es war also nicht mehr weit.

Viertel vor elf erreichten wir den Gipfel des Ortler (3905m). Wir hatten eine Stunde länger gebraucht als geplant, was wir angesichts der schwierigen Bedingungen ganz ok fanden. Es war auch noch früh genug, um vor einem möglichen Gewitter vom Gletscher zu kommen. Der große Genuss war es nicht, aber alles im grünen Bereich.

Weniger im grünen Bereich hingegen war die Sicht, beziehungsweise die Nicht-Sicht. Wir stapften ein paar Meter südwärts über den Grat und bogen dann nach rechts auf den Gletscher ab. Schon nach ein paar Metern hatten sich die Spuren, denen wir gefolgt waren, verloren. Zu sehen war nun genau gar nichts. Gut, dass wir vorbereitet waren. Christian ging voraus und navigierte mit dem Telefon; ich ging hinten und hielt das Seil straff.

So gelang es uns leidlich, in die richtige Richtung zu gehen. Und wir hatten Glück, denn noch bevor wir auf die richtig großen Spalten trafen, kamen wir nach unten aus dem Nebel heraus. Da waren wir froh, denn im Blindflug über die Spalten zu steigen wäre auch mit GPS-Track haarig geworden.

Nach Norden wird der Obere Ortlerferner ganz schön steil. Weiter westlich bildet er einen beeindruckenden Eisbruch aus. Aber auch am Normalweg mussten wir im Steilhang und zwischen den Spalten Serpentinen gehen. Konsequenterweise müsste man hier an Fixpunkten sichern (im unteren Bereich des Steilhangs gibt es dafür sogar im Eis versenkte Stangen), denn die Mitreißgefahr ist hier nicht zu vernachlässigen. Wir haben es nicht gemacht; ein Kompromiss zugunsten der Geschwindigkeit.

Apropos Geschwindigkeit: Als wir das Lombardi-Biwak erreichten, tauchten über uns am Gletscher zwei der Seilschaften auf, die vor uns am Gipfel gewesen waren. Sie hatten wohl nicht ganz so gut durch den Nebel gefunden wie wir. Leider suchten wir zunächst an der falschen Stelle nach dem Abseilstand ins Bärenloch, so dass uns die Dreierseilschaft wieder überholte und wir noch einmal warten mussten.

Zum Glück hatten wir keine Eile. Von einem Gewitter war nichts zu sehen und auch sonst war es eigentlich ganz schön hier. Nach einer kleinen Pause seilten also auch wir 25m ab und stiegen dann noch einmal zwischen nun kleineren Spalten hindurch den restlichen Gletscher hinab. Anschließend konnten wir endlich die wieder Steigeisen ausziehen und ohne weiter gehen.

Auch danach zog es sich noch mal: Eine Klammerquerung, eine Abseilstelle, eine lange Kettenhangelpassage, Ier- und IIer-Gelände, bis wir aus einer Scharte westlich der Tabarettaspitze endlich die Payerhütte vor uns sahen. Gar nicht so ganz ohne, dieser Normalweg. Und dazu mit einigen natürlichen Staustellen ausgestattet.

14:20 Uhr konnten wir uns auf die Hüttenterrasse setzen und erst einmal stärken (Spaghetti!). Wir hatten hier eigentlich eine Übernachtung reserviert, im Moment aber wenig Lust, in einer vollbelegten Hütte zu schlafen, in der außer uns alle um 03:00 Uhr morgens aufstehen würden. Ein Blick auf die Wettervorhersage ergab, dass wir gute Karten haben würden, trocken nach Sulden zu kommen. Das Gewitter schien auszufallen. Also sagte ich die Reservierung ab. Die Wirtin war natürlich wenig begeistert davon und die fällige Storno-Gebühr zahlte ich bereitwillig.

Als wir dann wieder losgingen, erwischte uns wie als Strafe für die kurzfristige Stornierung ein Hagelschauer. Nach etwa 10min hatte sich der Zorn der Berggeister zum Glück wieder gelegt und wir konnten entspannt nach Sulden absteigen. Die vielen Bergsteiger, die uns entgegen kamen, bestätigten uns dabei in unserer Entscheidung. Wir waren froh, den Hintergrat bereits an diesem Tag gegangen zu sein. Schon bei wenig Betrieb hatten wir im Aufstieg und Abstieg etwas warten müssen. Da wollten wir uns nicht ausmalen, wie das am nächsten Tag bei zwei vollbesetzten Hütten aussehen würde.

Schließlich erreichten wir 17:40 Uhr den Parkplatz. Erschöpft, müde, zufrieden. Es war nicht die erhoffte Genusstour geworden, aber doch ein intensiver und erlebnisreicher Tag im Gebirge. Halt mal wieder eine klassische Deichjodler-Hochtour.

Daten zur Tour

  • Ortler (3905m), über Hintergrat
  • Schwierigkeit AD, IV-
  • Passagenweise viele Bohrhaken, sonst alpin abgesichert
  • 1500 Höhenmeter ab Hintergrathütte
  • Abstieg über Normalweg (PD, III+)
  • Beschreibung und Topo bei bergsteigen.com

Hannes

Ursprünglich Flachländer bin ich als Jugendlicher zufällig zur Liebe zu den Bergen gekommen. Seitdem bin ich immer wieder im Gebirge und gelegentlich auch am Meer unterwegs. Da ich schon immer gern geschrieben habe, startete ich 2010 dieses Blog, um andere Reiselustige und Bergfreunde an meinen Erlebnissen teilhaben zu lassen.

2 Kommentare

Rebecca · 12. September 2023 um 10:41 am

Und noch so eine super Tour – Glückwunsch zum Hintergrat! Gut, dass es die moderne Technik gibt – da oben im Whiteout stehen stelle ich mir ziemlich unlustig vor. LG Rebecca

    Hannes · 14. September 2023 um 7:05 pm

    Danke Dir! Ich denke auch, ohne Sicht und ohne GPS kann es auf dem Gipfelplateau schnell sehr ernst werden. Wir hatten aber auch Glück, dass wir oberhalb der Spaltenzone aus der Wolke kamen. Über die riesigen Spalten dort wäre es ohne Sicht auch mit GPS sicher unangenehm geworden.

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